23.07.2018 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Zuletzt hat sich der Wohlstand erstmals seit langem wieder im Gleichklang mit dem BIP entwickelt. 2016, so die nun vorliegenden neuesten Daten, stieg der Wohlstand um 1,4 Prozent, 2015 um 0,6 Prozent und 2014 um 2,6 Prozent. Das entspricht einer durchschnittlichen Zunahme um 1,5 Prozent seit 2013, während das BIP im Mittel um 1,9 Prozent zulegte. Doch trotz dieser Beschleunigung befand sich das gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsniveau Ende 2016 nur auf dem gleichen Stand wie Mitte der 1990er Jahre. Das zeigt der „Nationale Wohlfahrtsindex 2018“ (NWI 2018), den ein Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Hans Diefenbacher (Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) Heidelberg) im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung soeben aktualisiert hat.
Hauptgrund für das relativ schwache Abschneiden bei der langfristigen Wohlfahrtsentwicklung ist nach Analyse der Forscher der fortwirkende deutliche Anstieg der Einkommensungleichheit vor allem in den 2000er Jahren. Damals stagnierten die Reallöhne vieler Beschäftigter, während Kapital- und Unternehmenseinkommen stark zunahmen. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit der Einkommen ausweist, erhöhte sich signifikant. In den vergangenen Jahren stiegen dann die Löhne im Durchschnitt wieder spürbar stärker als die Inflation. Da allerdings auch die Kapital- und Vermögenseinkommen kräftig zulegten, ging die Einkommensungleichheit kaum zurück. Auch 2016 habe sich die Einkommensverteilung „nur marginal verändert“, schreiben Diefenbacher und seine FEST-Forscherkollegen Benjamin Held und Dorothee Rodenhäuser. Alles in allem habe die Ungleichheit „auf dem höchsten Niveau seit 1991“ verharrt. Das neutralisierte einen Teil der kräftigen Zunahme beim privaten Konsum, den der Indikator als einen wesentlichen Faktor für Wohlstandszuwächse heranzieht. Positiv wirkte sich laut NWI im Jahr 2016 zudem aus, dass die öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung erhöht wurden, während die gesellschaftlichen Schäden durch Verkehrsunfälle und Luftschadstoffe leicht zurückgingen.
„Die neuen Ergebnisse zeigen zweierlei: Erstens sind die Erträge des aktuellen wirtschaftlichen Wachstums etwas gerechter verteilt als vor einem oder anderthalb Jahrzehnten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien haben jetzt einen größeren Anteil. Das ist gut so, die Entwicklung trägt auch zur Stabilität unseres Aufschwungs bei und sollte weiter gestärkt werden“, sagt IMK-Direktor Prof. Dr. Gustav A. Horn. „Denn zweitens hat dieses reiche Land in Sachen sozialer sowie ökologischer Nachhaltigkeit noch erheblichen Nachholbedarf – oder anders ausgedrückt: Eine Menge Potenzial und Spielraum. Das gilt es zu nutzen.“
Der NWI hat das Ziel, Lücken zu schließen und Widersprüche aufzulösen, die sich bei der klassischen Methode der Wohlstandsmessung allein über das BIP ergeben. So kritisieren viele Experten, dass das Inlandsprodukt weder die Verteilung der Einkommen noch Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen angemessen erfasst. Beispielsweise steigern Sanierungsarbeiten, mit denen eine Umweltverschmutzung beseitigt wird, in vollem Umfang das BIP. Dieser Teil des Wachstums trage aber „nicht zu einer wirklichen Wohlfahrtssteigerung bei“, betonen die Forscher.
20 Indikatoren von Konsum über Ungleichheit bis Luftverschmutzung. Die Wissenschaftler beziehen für den NWI insgesamt 20 Komponenten ein, um ein realistischeres Bild der Wohlfahrtsentwicklung zu erhalten. Zu den wichtigsten zählt der private Konsum, der mit dem Gini-Index gewichtet wird. Wird die Verteilung ausgeglichener, gibt das Pluspunkte beim Konsum, steigende Ungleichheit führt zu einem Abzug. Das begründen die Forscher nicht moralisch, sondern ökonomisch: Wenn zusätzliche Einkommen Menschen mit geringeren Einkommen zufließen, stiften sie dort einen höheren „Grenznutzen des Konsums“ als bei Reichen, bei deren Einkommen der gleiche absolute Zuwachs kaum ins Gewicht fällt. Und die ihre Bedürfnisse nach Waren und Dienstleistungen schon weitaus besser decken konnten.
Darüber hinaus erfasst der NWI unter anderem auch die Wertschöpfung durch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten sowie einen Teil der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung als wohlfahrtsstiftend. Von der Bilanz abgezogen werden dagegen etwa Aufwendungen zur Kompensation von Umweltbelastungen, Kosten für nicht erneuerbare Energieträger, Schäden durch Luftverschmutzung, Treibhausgase oder Lärmbelästigung sowie Kosten, die durch Kriminalität und Verkehrsunfälle entstehen. Auf diese Weise haben die Forscher in ihre Berechnung einen Korrekturfaktor eingebaut, um „Schattenseiten“ des grundsätzlich positiv gewerteten Konsums zu erfassen. Diesen wollen die FEST-Experten künftig noch stärken.
Im Vergleich zu Vorläuferversionen, die Diefenbacher und Kollegen unter anderem mit Unterstützung des Bundesumweltministeriums entwickelt haben, ist der IMK-geförderte NWI 2018 deutlich aktueller. Das liegt vor allem daran, dass die Forscher einen Weg gefunden haben, den Gini-Wert rascher verlässlich einzubeziehen. Daher kann der Index erstmals einen vorläufigen Wert für das Jahr 2016 liefern. Die älteren Versionen hatten noch eine Vorlaufzeit von mindestens zwei Jahren.
Für den Zeitraum seit 1991 identifizieren die Forscher drei abgeschlossene Phasen der Wohlfahrtsentwicklung. Möglich ist, dass die aktuellsten Jahre ab 2014 den Beginn einer vierten Phase mit wieder beschleunigter Wohlstandssteigerung markieren. Allerdings sei der Zeitraum noch zu kurz, um das sicher sagen zu können.
Insgesamt zeige der alternative Wohlfahrtsindex ein deutlich differenzierteres Bild als das BIP, betonen Diefenbacher und seine Ko-Autoren: „Erst wurde es besser, dann wieder schlechter. Es folgte eine Zeit der Stagnation, und auch die Steigerung der letzten drei Jahre führt bisher lediglich auf das Niveau von 1995/1996 zurück.“