Arbeit als Rechtssoziologin in der Türkei: Über die Einschränkung wissenschaftlicher Forschung in einem autoritären Regime

27.06.2024  — Von Seda Kalem. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH

Seda Kalem: »Arbeit als Rechtssoziologin in der Türkei: Über die Einschränkung wissenschaftlicher Forschung in einem autoritären Regime« (In: Rechtshandbuch für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, hrsg. von Dr. Sabine BerghahnUlrike Schultz, Auflage 90, Hamburg: Verlag Dashöfer 2024, Abschn. 8.5)

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Vorbemerkung (Ulrike Schultz)

Die Autorin ist als Rechtssoziologin u. a. auf empirische Justizforschung spezialisiert. Sie hat dazu einige Studien veröffentlicht. Im folgenden kurzen Beitrag beschreibt sie, wie durch die politischen Veränderungen in der Türkei der Zugang zum Feld problematisch geworden ist.Dieser beruht auf einer Darstellung, die sie für die rechtssoziologische Tagung des Research Committee for the Sociology of Law vom 30. August bis zum 1. September 2023 in Lund/Schweden geschrieben hatte. Ausführlich: Kalem, Seda (2023) Doing Fieldwork in Istanbul Courts: Challenges and Strategies, inHyden, H., Cotterell, R., Nelken, D. und U. Schultz, Hrsg. Combing the Legal and the Social in Sociology of Law. An Hommage to Reza Banakar. Oxford: Hart. Der Band ist open access https://library.oapen.org/handle/20.500.12657/61932 Vgl. auch Kalem, Seda (2020) Being a woman judge in Turkish judicial culture, in International Journal of the Legal Profession, 27/2, S. 119. Dies kann generalisiert werden im Hinblick auf alle Staaten, in denen autoritäre oder zunehmend autoritäre Regimes wie zuletzt Ungarn, Polen und Israel die Justiz unter staatliche Kontrolle der Exekutive gestellt haben. Das Erheben von Daten zum Funktionieren der Justiz wird dadurch eingeschränkt oder sogar unmöglich, es hindert kritische Diskussionen und das Erarbeiten von Verbesserungsvorschlägen.In Deutschland wird z. Zt. der Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten erforscht und kritisch diskutiert. Der Bericht zum Forschungsvorhaben ist hier abrufbar https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschlussbericht_Eingangszahlen_Zivilgerichte.html Noch 2010 hatte der deutsche Rechtssoziologe Thomas Scheffler argumentiert, dass aufgrund der öffentlichen Zugänglichkeit der Justiz in liberalen Rechtssystemen in rechtssoziologischen Studien „der Zugang zum Feld kein besonderes Thema sei“.In: Scheffer, T., K. Hannken-Illjes, K. und A. Kozin (2010) Criminal Defence and Procedure: Comparative Ethnographies in the United Kingdom, Germany, and the United States Palgrave Macmillan, S.26. Die Demokratie verliert aber an Boden wie die Bertelsmann Stiftung, die regelmäßig einen Transformationsindex zu den Regierungsformen (governance) erhebt, im Jahr 2022 mitteilt: „Erstmals seit 2004 verzeichnet unser Transformationsindex (BTI) mehr autokratische als demokratische Staaten. Von 137 untersuchten Ländern sind nur noch 67 Demokratien, die Zahl der Autokratien steigt auf 70.“https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/transformation-index-bti-2022-all mit Hinweis auf die Veröffentlichung zum Transformationsindex.

Seda Kalem schreibt:

„Fragen des Zugangs zur Justiz – insbesondere subtilere Fragen, wie die Sicherstellung der Kooperationsbereitschaft der Akteure oder die Überzeugung von den wissenschaftlichen Zwecken der Forschung, die Gewährleistung der Vertraulichkeit – sind für Forscherinnen und Forscher in allen politisch instabilen Umgebungen ein Problem.

Im Zeitraum von Dezember 2005 bis April 2006 haben wir ein Projekt über den Zugang zur Prozesskostenhilfe und ihre Qualität in der Türkei durchgeführt. Die wichtigsten Daten sollten aus der Überprüfung von Fallakten stammen, für die wir eine Genehmigung des Justizministeriums erhalten hatten. Trotz dieses Schreibens hielten wir es aufgrund unserer früheren Erfahrungen mit Richterinnen und Richtern für angebracht, sie persönlich über das Projekt zu informieren. Am Ende unserer Besuche gewährten uns die meisten Richter/innen die von uns gewünschte Zulassung. In den meisten Fällen verliefen diese Interaktionen sogar recht problemlos. Die Richter waren in der Regel recht begeistert von dem Projekt, neugierig auf die Ergebnisse, überzeugt von der Bedeutung der rechtssoziologischen Feldforschung und durchaus kritisch gegenüber dem Justizsystem. Sie waren gesprächsbereit und sogar so offen, dass sie sich in einigen Fällen mit ihren politischen Kommentaren und Kritiken ausdrücklich der Exekutive widersetzten.

Das Nachdenken über diese Erfahrung brachte mich dazu, über die Möglichkeit (Kontingenz) des Zugangs nicht nur als methodologische, sondern auch als soziale und politische Frage nachzudenken. Ein Jahrzehnt nach der ursprünglichen Untersuchung stellte ich mir die Frage, ob wir eine ähnliche Untersuchung im aktuellen politischen Umfeld der Türkei durchführen könnten und wie wir das Problem des Zugangs neu überdenken müssten. Als wir die ursprüngliche Studie Anfang der 2000er Jahre durchführten, befand sich die Türkei in ihrer goldenen Zeit mit der EU – die Beitrittsverhandlungen liefen. Da der Verhandlungsprozess größtenteils auf Harmonisierungsbestrebungen durch fortlaufende Regelübertragungen beruhte, markierte dieser Zeitraum tatsächlich die zweite Welle weitreichender rechtlicher Änderungen in der modernen Geschichte des Landes nach dem radikalen Reformprozess in der frühen republikanischen Zeit unter Atatürk. Wir hatten unser Projekt während dieser raschen Reformperiode entwickelt, die auch von einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium und der Rechtswissenschaft geprägt war.

Heute ist die Türkei jedoch ein vollständig neoliberales, wettbewerbsorientiertes, autoritäres Regime, in dem die Risiken und Herausforderungen für die akademische Forschung jeden Tag zunehmen. Insbesondere nach dem Putschversuch gegen die Regierung am 15. Juli 2016 und dem zweijährigen Ausnahmezustand, der die Befugnisse des Präsidenten durch Gesetzesdekrete stärkte, kam es in vielen Bereichen zu massiven Säuberungen, wobei 30 % aller Entlassungen im Bildungsbereich erfolgten. Im Hochschulbereich wurden 6.081 Akademiker und 1.427 Verwaltungsangestellte von 122 Universitäten sowie 300 Doktoranden, die mit einem staatlichen Stipendium im Ausland studierten des Landes verwiesen (und diese Zahlen können weiter steigen). Rund 40 % dieser ausgewiesenen Akademiker stammten aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Die Boğaziçi-Universität, eine der angesehensten Hochschuleinrichtungen der Türkei, ist zu einem Symbol des Widerstands und der Resilienz gegen die anhaltende politische Unterdrückung der Wissenschaft geworden.

Diese Situation zeigt, wie schwierig es ist, akademische Forschung zu betreiben, und sie wird noch düsterer, wenn man die Möglichkeit in Frage stellt, an Gerichten zu forschen, da die Justiz ein wichtiges Ziel von Angriffen der Exekutive ist. Im EU-Fortschrittsbericht 2022 über die Türkei wird berichtet, dass seit dem Putschversuch 2016 insgesamt 3 985 Richter und Staatsanwälte wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung entlassen wurden und nur 515 davon in ihre Ämter zurückkehren konnten; 17 weitere Richter und Staatsanwälte wurden im Berichtszeitraum entlassen.

Um also auf die Frage des Zugangs zurückzukommen, müssen wir über dessen Kontingenz nicht nur in Staaten unter Gewaltherrschaft oder Militärregimes nachdenken, sondern auch in autoritären Kontexten, in denen die Beschränkungen zwar nicht legal, aber die Gefahren nicht immer physisch oder offensichtlich sind. In einer Studie über autoritäre Staaten in Südostasien wird das Problem treffend so auf den Punkt gebracht: „Illiberalismus, einschließlich der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten und der akademischen Freiheit, verzerrt den Forschungsprozess, und zwar oft auf ziemlich vorhersehbare Weise“, und einiges davon trifft sogar auf „angebliche Demokratien zu, in denen die akademische Freiheit – einschließlich des Raums für Forschung und kritische Untersuchung – unter Druck ist.Morgenbesser, Lee und Meredith L. Weiss (2018) Survive and Thrive: Field Research in Authoritarian Southeast Asia Asian Studies Review, 42:3, 385–403, S.16.

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