09.05.2022 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Zusätzlich zu diesen angebotsseitigen Effekten wäre mit einem nachfragebedingten Rückgang des BIP aufgrund höherer Energiepreise zu rechnen: Wenn etwa Verbraucherinnen und Verbraucher weniger für andere Güter ausgeben können und die Unsicherheit zunimmt, dürfte das die Wirtschaftsleistung um weitere 2 bis 4 Prozent reduzieren. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie von Prof. Dr. Tom Krebs von der Universität Mannheim, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat. Damit wäre durch ein kurzfristiges Erdgas-Embargo ein wirtschaftlicher Einbruch auf dem Niveau des Corona-Jahres 2020 oder der Finanzkrise im Jahr 2009 zu erwarten, schreibt der Professor für Volkswirtschaftslehre. Es „könnte jedoch auch zu einer Wirtschaftskrise führen, wie sie (West)Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat“, warnt Krebs.
Die sozialen Folgen einer derart zugespitzten Energie-Krise wären mit hoher Wahrscheinlichkeit gravierender als 2009 oder 2020, schätzt der Ökonom, der heute Nachmittag auch als Sachverständiger im Deutschen Bundestag angehört wird. Denn erstens stehe die deutsche Wirtschaft nach zwei Pandemie-Jahren, durch globale Lieferkettenprobleme sowie den Transformationsdruck im Zeichen des Klimawandels ohnehin unter Stress. Das könnte zu vermehrten Insolvenzen oder Produktionsverlagerungen führen und zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Möglichkeiten der Wirtschafts- und Geldpolitik, gegenzusteuern seien dagegen angesichts schon stark erhöhter Ausgaben zur Abfederung der Corona-Krise und angesichts der hohen Inflation sehr eingeschränkt. Die Preisschocks bei Energie und Nahrungsmitteln träfen zudem „überwiegend die unteren und mittleren Einkommen, so dass soziale Spannungen verschärft werden.“
Krebs leuchtet in seiner Untersuchung insbesondere so genannte „Kaskaden-“ oder „Zweitrundeneffekte“ eines „Erdgasschocks“ durch kurzfristige Lieferstopps aus. Diese Effekte ergeben sich, wenn Schlüsselindustrien ihre Produktion auf breiter Linie herunterfahren oder ganz einstellen müssen und anderen Branchen dann zentrale Vorprodukte fehlen, was den volkswirtschaftlichen Schaden drastisch erhöht. Derartige Zusammenhänge sind quantitativ schwer abzuschätzen, weil sie in den letzten Jahrzehnten nur in sehr seltenen Extremsituationen zu beobachten waren – nach Krebs‘ Analyse eine Schwachstelle vieler Modellierungen zu den Auswirkungen eines Energieembargos.
Um sich den Effekten wissenschaftlich fundiert annähern zu können, nutzt der VWL-Professor unter anderem Studienergebnisse zu Produktionsunterbrechungen nach der Erdbeben- und Atomkatastrophe in Japan 2011. Trotz breiter Bezüge zur aktuellen Forschungsliteratur und tendenziell vorsichtiger Annahmen seien die Ergebnisse seiner Untersuchung, wie alle vergleichbaren Studien, „mit großer Unsicherheit verbunden“, betont der Forscher. Allerdings stünde die Resultate je nach Szenario durchaus im Einklang mit aktuellen Modellrechnungen, welche die Bundesbank und die Forschungsinstitute der Gemeinschaftsdiagnose (GD) angestellt haben.
Krebs nimmt seine Analyse in vier Schritten vor. Als Rahmenannahme geht er von einem vollständigen Import- bzw. Lieferstopp von Erdgas zwischen der EU und Russland zwischen Anfang Mai 2022 und Ende April 2023 aus. Der Ökonom kalkuliert sowohl ein Basisszenario als auch ein optimistischeres Alternativszenario, bei dem kurzfristig deutlich mehr russisches Erdgas durch Lieferungen aus anderen Ländern ersetzt werden kann als in den aktuellen Krisenplänen von Bundesregierung und EU erwartet.
Im ersten Schritt schätzt Krebs ab, wie stark das Erdgasangebot in Deutschland sinkt, wenn Importe aus Russland kurzfristig enden. Diese machten 2021 rund 430 Terawattstunden (TWh) aus; das entsprach knapp der Hälfte des Gesamtverbrauchs in Deutschland. Im Basisszenario, das den aktuellen Krisenplänen von EU und Bundesregierung folgt, lassen sich von diesem Verlust 140 TWh Erdgas kurzfristig durch zusätzliche Importe aus dem nicht-russischen Ausland ersetzen. Es verbleibt also ein Nettorückgang von 290 TWh oder 32 Prozent des gesamten Verbrauchs im Jahr 2021. Im alternativen Szenario wird die Annahme getroffen, dass die Regierungspläne übererfüllt werden. Konkret können im Alternativszenario kurzfristig 190 TWh Erdgas zusätzlich aus dem nicht-russischem Ausland importiert werden, so dass das effektive Erdgasangebot in Deutschland „nur“ um 240 TWh oder 27 Prozent des Verbrauchs von 2021 zurückgehen würde. Ähnliche Annahmen hatten auch die GD-Institute getroffen.
In einem zweiten Schritt der Analyse schätzt Krebs auf Basis der aktuellen Forschungslage ab, wie sich der negative Erdgasschock auf die verschiedenen Bereiche der deutschen Volkswirtschaft verteilen würde. Nach aktuellen Berechnungen, etwa der Fachleute von Agora Energiewende, kann die Energiewirtschaft kurzfristig bis zu 105 TWh Erdgas einsparen bzw. ersetzen, ohne die Energieversorgung zu gefährden. Zudem kann der Erdgasverbrauch im Gebäudebereich um rund 55 TWh reduziert werden. Allerdings müssten dazu alle privaten Haushalte ihr Verhalten ändern und weniger heizen. Zudem müssten flächendeckend Betriebseinstellungen verbessert werden (z.B. durch wassersparende Armaturen) und in einem substanziellen Teil der Haushalte investive Maßnahmen getätigt werden (z.B. durch Einbau von Wärmepumpen). Gelänge dies, verbleibt eine Lücke von 130 TWh im Basisszenario bzw. 80 TWh im alternativen Szenario, die durch eine Reduktion des Erdgasverbrauchs in der Industrie ausgeglichen werden muss. Konkret müsste die Industrie im Basisszenario dazu ihren Erdgasverbrauch gegenüber 2021 um 53 Prozent senken, im alternativen Szenario um 33 Prozent (siehe auch Tabelle 2 in der pdf-Version). Dieser Korridor definiert für Krebs den „negativen Erdgasschock“, der das Verarbeitende Gewerbe treffen würde. Ein Teil dieses Erdgasschocks kann dabei laut Krebs durch Substitution mit anderen Energieträgern aufgefangen werden, es verbliebe aber eine Lücke von 41 Prozent des industriellen Gasverbrauchs im Basisszenario und 16 Prozent im Alternativszenario, die nur durch ein Zurückfahren der Produktion geschlossen werden kann.
Im dritten Schritt berechnet der Mannheimer Wirtschaftsprofessor den Produktionsrückgang in der erdgasgasintensiven Industrie, der als Folge der Verknappung des Erdgasangebots zu erwarten ist. In der deutschen Industrie wird Erdgas hauptsächlich in sechs erdgasintensiven Zweigen genutzt: Chemie, insbesondere Grundstoffchemie, Metallerzeugung und -bearbeitung sowie Gießerei, Glas und Keramik, Steine und Erden, Ernährung, das Papiergewerbe und der Maschinen- und Fahrzeugbau. „Für diese Industriezweige ist Erdgas ein essentieller und schwer ersetzbarer Inputfaktor im Produktionsprozess“, schreibt Krebs. Gleichwohl klammert er bei der weiteren Berechnung der Folgen auch für diese Branchen einen erheblichen Teil der Produktionsprozesse und der Wertschöpfung aus, die sich wahrscheinlich irgendwie umstellen ließen.
Im Basisszenario führt ein Erdgasembargo unter diesen Umständen zu einem Produktionsverlust in der erdgasintensiven Industrie, der einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung um 1,6 Prozent des deutschen BIPs entspricht. Im alternativen Szenario ergibt sich ein Verlust der Bruttowertschöpfung von 0,6 Prozent des BIPs in den erdgasintensiven Industriezweigen. So groß fällt nach Krebs´ Abgrenzung also der ökonomische „Erstrundeneffekt“ eines Erdgasembargos aus.
Im vierten und letzten Schritt berechnet der Forscher die gesamtwirtschaftlichen Folgen eines sofortigen Stopps russischer Gasimporte auf die Produktion, also inklusive der „Zweitrunden-“ und „Kaskadeneffekte“. Dazu schätzt er ab, inwieweit sich der Produktionsrückgang in den erdgasintensiven Industriezweigen über Produktionsverflechtungen ausbreitet und verstärkt. Die erdgasintensive Industrie in Deutschland steht größtenteils am Anfang einer komplexen Wertschöpfungskette und produziert spezialisierte Vorprodukte. Ein Produktionsrückgang bzw. Stillstand etwa in der Grundstoff- oder Metallindustrie würde also zu Unterbrechungen in den nachgelagerten Produktionsketten führen und so auf die gesamte Wirtschaft ausstrahlen.
Auf Basis der Studienergebnisse zu den Folgen des Erdbebens und der Reaktorkatastrophe von Fukushima für die Industrieproduktion in Japan 2011 kommt Krebs zu der Einschätzung, dass sich der ursprüngliche Produktionsrückgang in der erdgasintensiven Industrie über die Unterbrechung von Wertschöpfungsketten kurzfristig auf das fünffache verstärken dürfte. Ein verstärkter Import von Vorprodukten, den manche Forscher für einen Ausweg halten, kann nach Krebs´ Analyse „Kaskadeneffekte“ kaum dämpfen. Zwei zentrale Gründe sprechen gegen einen starken Dämpfungseffekt: Die energieintensiven Industriezweige stellten zu großen Teilen Spezialprodukte her, die, so Krebs, „kurzfristig kaum zu ersetzen sind und auch nicht auf einem ‚Weltmarkt‘ gehandelt werden“. Darüber hinaus sei zu beachten, dass die genannten Studienergebnisse zu den Folgen des Erdbebens in Japan 2011 bereits solche Substitutionsmöglichkeiten berücksichtigen.
Damit ergibt sich für das Basisszenario ein Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion durch angebotsseitige Effekte um bis zu 8 Prozent des BIPs und im alternativen Szenario um bis zu 3 Prozent, rechnet der Ökonom vor. Doch damit wären die negativen Effekte eines Embargos noch nicht vollständig erfasst. Denn eine abrupte Verknappung des Gasangebots beeinflusst zusätzlich auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, weil Energiepreise steigen, Verbraucher weniger für andere Güter ausgeben können und die Unsicherheit zunimmt. Gestützt auf Simulationsanalysen der Bundesbank, des Sachverständigenrats und des IMK veranschlagt Krebs diesen zusätzlichen nachfrageseitigen Produktionsrückgang auf 2 bis 4 Prozent des BIPs. Der Gesamteffekt eines abrupten Stopps der Versorgung mit russischem Erdgas ergibt sich annährend aus der Summe der Nachfrage- und Angebotseffekte. Im Basisszenario ist also damit zu rechnen, dass das Bruttoinlandsprodukt in den 12 Monaten nach Einsetzen des Lieferstopps bis zu 12 Prozent niedriger ausfallen würde, als es bei ununterbrochener Weiterlieferung von Gas der Fall wäre, während im alternativen Szenario das BIP bis zu 7 Prozent unter der sonst zu erwartenden Entwicklung liegen würde. Dabei erwarten die meisten Forschungsinstitute für dieses Jahr ohne Erdgasembargo ein BIP-Wachstum von rund 2 Prozent.
Wichtig ist dem Mannheimer Ökonomen aber auch eine andere Botschaft: Ein abruptes Ende von russischen Erdgaslieferungen ist nach seinen Berechnungen aktuell volkswirtschaftlich hoch riskant. Sich in einem überschaubaren Zeitraum bis 2025 aus der Abhängigkeit von russischen Erdgasimporte zu befreien, wie es die Bundesregierung vorhat, sei dagegen weitaus leichter. „Wenn es um Erdgas geht, besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einem Anpassungszeitraum von maximal einem Jahr und einem dreijährigen Anpassungszeitraum“, schreibt Krebs. Dies gelte „sowohl hinsichtlich der Möglichkeiten, russische Erdgasimporte durch Importe aus anderen Ländern zu ersetzen, als auch hinsichtlich der Möglichkeiten, in der Produktion Erdgas durch alternative Energieträger (Öl, Kohle, Strom) zu ersetzen“.
Weitere Informationen:
Tom Krebs: Auswirkungen eines Erdgasembargos auf die gesamtwirtschaftliche Produktion in Deutschland. IMK Study Nr. 79, Mai 2022.
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